Die Fotografie Many-Headed Reading (2016) zeigt eine Nahaufnahme von Jenna Sutelas geöffneten Mund und ihrer Zunge, auf der sich der Schleimpilz „Physarum polycephalum“ ausbreitet. Im Zentrum des Bildes steht dieser einzellige, aber „vielköpfige“ Organismus, der als natürlicher Computer bekannt ist. Sutela geht in der ursprünglichen Performance eine Verbindung mit dem Schleimpilz ein, indem sie ihn auf ihre Zunge legt und ihn schließlich schluckt, sodass dessen schwarmähnliches Verhalten sie „programmiert“. Diese intime Geste der Einnahme verdeutlicht Sutelas Interesse traditionelle Grenzen des Wissens und der Wahrnehmung zu überschreiten. Diese intime Geste des Verschluckens des Schleimpilzes symbolisiert Sutela die Verschmelzung von menschlichem und mehr-als-menschlichem Bewusstsein und deutet auf die Idee hin, dass Intelligenz nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Körper und sogar in der Symbiose mit anderen Lebensformen existiert.
dirt
pamela rosenkranz and jenna sutela
all photos: Dirk Tacke | unless otherwise stated

max goelitz is pleased to invite the artists Jenna Sutela and Pamela Rosenkranz in collaboration with gallery Sprüth Magers to present an exhibition that literally brings together humans and more-than-humans. At the core of dirt is the living installation Vermi Cell by Jenna Sutela, a compost composed of soil, seedlings and earthworms, which continues to develop during the exhibition period while generating energy for a sound system. Pamela Rosenkranz’s works enter into a dialog with this organism, meditating on the idea of “nature” through the human view of it. Both artists seek to dissolve the boundary between the organic and the synthetic. Furthermore, the exhibition questions the illusion that everything can or should always be readily available to us.
Detailed photos and further information on the individual works can be accessed by clicking on the images.
All Photos: Dirk Tacke | unless otherwise stated

jenna sutela
Installation view Stellar Nursery, Schering Stiftung, Berlin (2022) | Photo: Jens Ziehe

“I’m very curious about things beyond the reaches of human reasoning, and I’ve tried to interfere with language and symbol (systems) – for example, by the ingestion of slime mould – and through computational processes in other works to try to sense the world in some other, more direct way, if possible, or from a non-anthropocentric view, which is, of course, very difficult for a human.”
– Jenna Sutela
Photo: Ellie Lizbeth Brown

Jenna Sutela (*1983 in Turku, FI) uses biological and computational systems to create audio-visual works, sculptures, images and performance art. Working with artificial neuronal networks or bacteria and with the help of her own systems and algorithms, the artist uncovers patterns and meanings that are hidden in disorder. With her collaborative approach she points to decentralised organisation, she questions social hierarchy, broaches the issue of communication between species and the connection of awareness and the material world. Her procedural works are based on latest scientific research and reflect its socio-political impact. Sutela’s work promotes the idea of a symbiotic network and the renunciation of an anthropocentric world. Her oeuvre illustrates that humankind does not exist in a void, but in symbiotic ecosystems with bacteria, mould, computers and many other elements, some of which remain incomprehensible.
Installation view Neither A Thing, Nor An Organism, Bold Tendencies (2018) | Photo: Damian Griffiths

vermi cell

Vermi Cell (2023) is an audiovisual installation consisting of compost heaps, within which worms and microbiological organisms generate energy for a sound piece. This energy is derived from electrons in the compost flowing through conductive rods while affecting the intensity of the sound in the space. In Vermi Cell, Sutela creates an environment tailored to the needs of the organisms within the soil, rather than for the viewing audience. In fact, the processes occurring within the compost are not visually discernible but can be perceived through sound, as facilitated by computer processing.

Installation view Vermi Cell, Fragile, Berlin (2023) | Photo: Jonas Wendelin

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many-headed reading
Many-Headed Reading (2017) | Photo: Mikko Gaestel


It was really my encounter with the slime mold, a so-called biocomputer, that paved the way for more biological experiments after my training in sound and media art. I then moved on to working with even smaller organisms, namely bacteria, getting obsessed with the gut-brain connection.”
– Jenna Sutela
Many-Headed Reading (2017) | Photo: Mikko Gaestel


Installation view Vermi Cell, Fragile, Berlin (2023) | Photo: Jonas Wendelin

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energy poem

Energy Poem (2023) ist ein Gedicht, das Jenna Sutela mit essbarer Tinte auf essbares Papier druckt und mit dem sie dazu einlädt, ihr Werk nicht nur rein visuell und intellektuell zu erfahren, sondern den Körper mit all seinen Mikroorganismen miteinzubeziehen. Die Künstlerin fordert das Publikum zur Reflektion über die Generierung, das Verstehen und Teilen von Wissen auf und regt dazu an, alternative Formen der Wahrnehmung und Interaktion in Betracht zu ziehen. Dabei verdeutlicht Sutelas Arbeit, dass es eine unsichtbare Verbindung zwischen dem Mikroskopischen und dem Kosmischen gibt, verkörpert durch Organismen wie „Bacillus subtilis“, die sowohl im menschlichen Darm als auch in den Weiten des Weltalls existieren können.

Energy Poem zielt darauf ab, den Begriff der Lesbarkeit und das Verständnis von Intelligenz zu erweitern und hinterfragt die traditionelle Hierarchie zwischen Menschen und mehr-als-menschlichen Lebensformen. So wird die Rezeption des Werks buchstäblich zu einer symbiotischen Zusammenarbeit, welche im Zentrum von Sutelas fortlaufender Erforschung von Intelligenz und Bewusstsein steht und es ermöglicht mit den unzähligen unsichtbaren Spezies, die uns umgeben und in uns leben, in Kontakt zu treten.


Installation view Vermi Cell, Fragile, Berlin (2023) | Photo: Jonas Wendelin

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pamela rosenkranz
Installation view House of Meme, Kunsthaus Bregenz (2021) | Photo: Markus Tretter

Ich frage, woraus sind wir Menschen gemacht? Was lässt uns fühlen, wie wir uns fühlen? Welchen Einfluss haben wissenschaftliche Erkenntnisse auf die Bedeutung des Menschseins und die Neurowissenschaften auf unser Verständnis von Identität? Die neueste Forschung zur Evolutionsgeschichte des Gehirns macht deutlich, dass wir das Selbst nicht als feste Größe, sondern als ein sich ständig ändernden Prozess verstehen müssen.
– Pamela Rosenkranz
Photo: Marc Asekhame

Pamela Rosenkranz (*1979 in Uri, CH) widmet sich in ihrer künstlerischen Praxis der Untersuchung von Identität, Wahrnehmung und Körperlichkeit im Kontext einer zunehmend technologisierten Welt. Ihre konzeptuellen Werke, die Skulptur, Installation und Malerei umfassen, erkunden die materiellen Grundlagen des Menschseins und hinterfragen die vermeintlich festen Kategorien von Natur und Künstlichkeit. Rosenkranz verwendet beispielsweise frei verfügbare Stock-Bilder und synthetische Materialien wie Pigmente und Flüssigkeiten, um auf die physiologischen und psychologischen Reaktionen des menschlichen Körpers zu verweisen und diese in Beziehung zu wissenschaftlichen, kulturellen und philosophischen Diskursen zu setzen. In ihren Arbeiten hinterfragt sie das klassische Verständnis von Identität und stellt Überlegungen dazu an, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse – insbesondere aus der Neurowissenschaft und der Evolutionsforschung – auf unser Selbstverständnis und Verhältnis zur Umwelt auswirken. Sie lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Identität kein konstantes Konstrukt ist, sondern ein Prozess, der in ständiger Veränderung begriffen ist.
Installation view Swiss Pavilion, La Biennale di Venezia (2015) | Photo: Marc Asekhame

i wish i could cry blood
Installation view House of Meme, Kunsthaus Bregenz (2021) | Photo: Markus Tretter

Pamela Rosenkranzs Werkreihe I Wish I Could Cry Blood (2021) stellt das menschliche Auge ins Zentrum der Wahrnehmung, um Sehgewohnheiten und deren Entwicklung zu reflektieren. Sie nutzt Ausschnitte existierender Stock-Fotos von Augen, die sie zentral in den schmalen Bildrahmen setzt und mit pinker Acrylfarbe übermalt. Das Logo der Stock-Plattform zieht sich diagonal und fragmentarisch als Kopierschutz über das Bild und legt dessen kommerzielle Quelle damit offen. In Form dieser Aneignung wird ebenso die Beeinflussung von Sehgewohnheiten durch digitale Bilderverbreitung thematisiert. Im Zusammenhang mit dem Sinnesorgan kann das auf der Oberfläche herabtriefende Farbpigment mit Körperflüssigkeiten assoziiert werden.

So entsteht eine Ambivalenz zwischen der symbolischen Bedeutung des Auges als Erkenntnis und der tatsächlichen physischen Wahrnehmung, die multisensorisch im Körper stattfindet und in die zahlreiche biochemische Prozesse unterbewusst involviert sind. Rosenkranz unterstreicht die Durchdringung des Äußeren und Inneren, des Dargestellten und Körperlichen. Sie hinterfragt tradierte Blickregime und das Auge als primäres Organ der Erkenntnisgewinnung, indem sie die fluiden und versteckten Komponenten des Körpers hervorhebt.


„Wenn wir unsere Augen als Organe verstehen, die sich über sehr lange Zeiträume hinweg entwickelt haben, können wir anders über die Bilder denken, die wir in der heutigen Welt sehen. Es gibt kein reines Bild, das durch unsere Netzhaut strömt und uns Zugang zur Wahrheit verschafft. Das Sehen ist sehr physisch und widersprüchlich.“
– Pamela Rosenkranz

Installation view Vermi Cell, Fragile, Berlin (2023) | Photo: Jonas Wendelin

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anamazon

Die Werkserie Anamazon (2021) von Pamela Rosenkranz zeigt wie sich die Wahrnehmung von Naturaufnahmen und digitale Bildproduktion überlagern. Sie greift dabei auf Stock-Fotos der Plattform Alamy von Regenwaldlandschaften zurück, die sie als Pigmentdruck auf Aluminium überträgt. Rosenkranz untersucht in diesen Werken die Manipulation von Bildmaterial und hinterfragt dabei die Art und Weise, wie visuelle Informationen in der digitalen Sphäre aufbereitet und konsumiert werden. Die Künstlerin verdeutlicht die Kluft zwischen der unberührten Natur und deren kommerzieller Nutzung durch digitale Medien.


Indem sie diese universell verfügbaren, durch Bildarchive standardisierten Aufnahmen des Urwalds mit kräftigen Schichten pinker Acrylfarbe überzieht, evoziert sie Assoziationen mit dem menschlichen Körper und seinen Flüssigkeiten und verwischt so bewusst die Grenzen zwischen natürlichen und künstlichen Anteilen. Die Werkserie spiegelt somit eine zentrale Auseinandersetzung mit der Entfremdung des Menschen von der Natur wider und beleuchtet zugleich welchen Beitrag Technologie in der Vermittlung und kommerziellen Verwertung von Naturbildern trägt. Rosenkranz nutzt diese Gegenüberstellung als Mittel, um traditionelle Materialien und Motive zu transformieren und sie in einem zeitgenössischen Kontext neu zu interpretieren, der die Spannungen und Paradoxien der modernen Gesellschaft reflektiert.
Eigentlich interessiert mich ganz allgemein der materielle Aspekt des Immateriellen. Auch wie sich die Präsenz des einen Materials mit einem anderen faken lässt. Zum Beispiel wie kann ich die glatte Oberfläche von Wasser oder Flüssigkeit skulptural imitieren?
– Pamela Rosenkranz
Video: Humans Are Mammals, Louisiana Channel (2022)

Installation view Vermi Cell, Fragile, Berlin (2023) | Photo: Jonas Wendelin

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healer scrolls

Die Werkserie Healer Scrolls (2023/2024) spiegelt die Schnittstelle von Natur und Technologie wider, indem Pamela Rosenkranz präzise konstruierte Schnitte im Papier setzt, um Muster zu erzeugen, die an Schlangenschuppen erinnern. Die Werkserie besteht sowohl aus bedruckten, als auch unbedruckten in Kirigami Technik geschnittenen Papieren, die mit Aquarellfarben übermalt und in Plexiglas gerahmt sind. Rosenkranz erkundet die Symbolik der Schlange, die aus langer Tradition kulturhistorisch gewachsen ist und dessen archetypische Bildsprache sie auf das Papier überträgt. Bekannt für ihre doppelte Natur ist die Schlange ein Symbol für die schmale Linie zwischen Leben und Tod. Mit ihrem Gift, das sowohl als starkes Heilmittel wie auch als tödliche Waffe dient, ist sie mit uralten schamanischen Annahmen verbunden und löst zugleich tief verwurzelte evolutionäre Ängste aus.

Inspiriert von dieser Bedeutungsebene, sowie der evolutionären Entwicklung vom aquatischen zum terrestrischen Leben, verweisen Healer Scrolls auf den Übergang neuer Existenzformen. Die fließenden Schwimmbewegungen wurden zu der schlängelnden Fortbewegung von Landtieren, ermöglicht durch den schuppigen Körper. So deutet die Serie einerseits auf die Evolution lebender Organismen und markiert gleichzeitig selbst eine Schnittstelle technologischer Entwicklung, zwischen historischer Handwerkstechnik und maschineller Produktion. Die Papierarbeiten wirken sowohl konstruiert als auch fragil und hinterfragen durch die Nachahmung organischen Materials anhand mechanischer Präzision unsere Beziehung zur natürlichen und künstlichen Welt. Der Titel impliziert zudem die Entwicklung digitaler Informationsübertragung, die durch scrollen im Internet konsumiert wird und dem Lesevorgang historischer Schriftrollen gleicht.


Installation view Vermi Cell, Fragile, Berlin (2023) | Photo: Jonas Wendelin

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Installation view Vermi Cell, Fragile, Berlin (2023) | Photo: Jonas Wendelin

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